Sunday, July 3, 2011


Belarus zwischen Moskau
und der Europäischen Union

Belarus zwischen Moskau und der Europäischen Union
Von Hans-Georg Wieck


Inhaltsverzeichnis

Einleitung
1. Belarus aus russische Sicht
2. Belarus unter Lukaschenko
3. Belarussische Staatstraditionen
4. Demokraten in Belarus
5. Die Konfrontation der Zivilgesellschaft mit Lukaschenko
6. Belarus und Europa
7. Europa und die Zivilgesellschaft in Belarus


Einleitung

Die wirtschaftliche Blüte des heutigen Belarus beruht auf den Rahmenbedingungen, die sich aus den privilegierten Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Russischen Föderation und Belarus ergeben. Kernstück dieser Vergünstigungen ist die Anwendung russischer Inlandpreise für Erdgaslieferungen an Belarus und in gewissem Umfang für Erdöllieferungen. Im Jahre 2005 konnte Belarus aus diesen Sonderbeziehungen einen Gewinn von 6 Mrd. EURO für den eigenen Staatshaushalt verbuchen. Russland fordert nun auch vom belarussischen Nachbarn den Weltmarktpreis ein, der um das Drei- bis Vierfache über dem russischen Inlandpreis liegt. Kann Moskau sein Ziel schließlich doch noch erreichen, aus dem widerspenstigen Belarus, das seine Unabhängigkeit nicht aufgeben will, ein virtuelles, oder gar richtiges Mitglied der Russischen Föderation zu machen. Die Russische Föderation setzt im Interesse ihrer machtpolitischen Zielsetzungen auf ihren wirtschaftspolitischen und finanziellen Einfluss bei den Nachbarstaaten und gegenüber der Europäischen Union auf deren Abhängigkeit von russischen Energielieferungen bzw. Energierohstoffen (Erdgas und Erdöl). An die Stelle von Ideologie und Militär als Werkzeugen der nationalen Interessenvertretung und -Förderung sind die Erdöl- und Erdgasreserven Russlands getreten, und Russland sagte dies auch.

Es gibt nicht wenige Politiker im Westen, die diese Abhängigkeit zur Grundlage ihrer flexiblen Politik gegenüber Russland und zum Ausgangspunkt einer engen politischen und wirtschaftlichen Beziehung mit Russland machen. Ein bürgerliches, ein demokratisches Russland könnte diese Bereitschaft des Westens zu offenen partnerschaftlichen, gleichberechtigten Beziehungen rechtfertigen. Aber ein Russland imperialer Ambitionen interpretiert einen solchen „Schmusekurs“ des Westens als Zeichen der Schwäche und Unterwerfung und handelt entsprechend. Heute haben wir es in Russland eher mit einer politischen Führungsschicht zu tun, die an die imperialen Epochen russischer Geschichte anknüpft und die Sache des Staates als Garanten innerer Sicherheit und allgemeinen Wohlstands als auch machtpolitische Komponenten internationaler Politik in den Vordergrund ihres Denkens, Planens und Handeln gestellt. Es darf nicht an „demokratischer Legitimation“ fehlen, aber eher im Sinne einer gelenkten Demokratie als im Sinne einer offenen Demokratie, die auch einen Wechsel der Führungsmannschaft auf der Grundlage des Wahlsieges eines Herausforderers kennt und solche Wechsel als Grundlage der politischen Stabilität ansieht.

Den demokratischen Kräften in allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion stehen schwierige Zeiten ins Haus!

1. Belarus aus russischer Sicht

Es mangelt nicht an Aussagen russischer Führungskräfte, angefangen bei Präsident Putin, die die Zukunft von Belarus, dessen Bevölkerung als ein Teil der russischen Nation betrachtet wird, eher im Verbande und Verbunde mit Moskau sehen als im Verband oder Verbund der Europäischen Union.

In der Konsequenz dieses russischen Denkens liegt es dann auch, innenpolitische Veränderungen in Belarus, wenn sie im Sinne einer Stärkung der zentralen Gewalt, z.B. bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen oder in Referenda wie bei dem über die unbegrenzte Wiederholbarkeit von präsidentiellen Amtsperioden erfolgen, als „demokratische Prozesse“ zu qualifizieren und die Ergebnisse anzunehmen. Diese Haltung unterstreicht und verstärkt die politische Abhängigkeit des Regimes in Minsk von Moskau.

Die Bereitschaft zum normalen politischen Kontakt mit politischen Alternativen ist in Moskau und in Minsk gering ausgeprägt und auf die Kontaktpflege beschränkt, um Informationen zu gewinnen. Umso seltsamer muss es dem Beobachter erscheinen, dass es in Westeuropa nicht wenige politische Berater gibt, die sich dafür einsetzen, zusammen mit Moskau den demokratischen Transformationsprozess in Minsk zu fördern. Auf diese Weise möchte man offenbar das eigene Bemühen in Moskau akzeptabel machen bzw. den kühnen Plan verfolgen, Moskau selbst wieder auf einen genuinen demokratischen Transformationsprozess zu lenken.

Solche Ratgeber - und derer gibt es zahlreiche - übersehen, dass die Europäischen Institutionen - die Europäische Union, der Europarat und die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) - ein eigenes Mandat dafür haben, die demokratischen Transformationsprozesse in den früheren Ländern des Ostblocks zu fördern.

Es ist einzuräumen, dass die forcierte Demokratie-Transformation in Moskau Gegenkräfte ausgelöst hat, und dass die formale Umgestaltung der Gesetzgebung nach demokratischen Vorgaben noch keine Gewähr für den Erfolg des tatsächlichen Demokratisierungsprozesses in Stadt und Land sowie in den zentralen staatlichen Einrichtungen bietet.

2. Belarus unter dem Diktator Lukaschenko

Der belarussische Präsident, der sich im Jahre 2004 verfassungsmäßige Voraussetzungen dafür geschaffen hat, unbeschränkt wieder gewählt zu werden, und der auch die politischen und gesellschaftspolitischen Gegenkräfte immer wieder mundtot gemacht hat, d.h. sein Medienmonopol skrupellos nutzt, besteht auf der Unabhängigkeit von Belarus, wird aber auf Dauer nicht umhin können, dafür den Preis der indirekten Abhängigkeit zu zahlen - den Verzicht auf die nationale Währung und ein eigenes Emissionsrecht für einen gemeinsamen Rubel, die Kontrolle über die Schlüsselfragen der inneren und der äußeren Sicherheit oder die Rahmenbedingungen der Wirtschaftspolitik.

In Westeuropa gibt es nicht wenige Beobachter und so genannte Russlandspezialisten, die in der Re-Integration von Belarus in den russischen Staatsverband eine natürliche, eine unvermeidbare Entwicklung sehen, die der Westen auch nicht behindern, jedenfalls nicht zum Gegenstand eines Streits mit Moskau machen sollte. Andere anerkennen durchaus das substantielle Interesse von Belarus an der eigenen Unabhängigkeit, einer von der geschichtlichen Entwicklung her zwiespältig geprägten Nation, deren Identität durch machtpolitische Interessen andere Staaten und Völker immer wieder in Frage gestellt wurde. Sie wollen sich aber nur in allgemeiner Form in dieser Frage engagieren, um nicht den Dialog mit Moskau und die Entwicklung dieses Beziehungsgeflechts zu gefährden.

Ist das Schicksal von Belarus bereits besiegelt? Angesichts des machtpolitischen und wirtschaftlichen Übergewichts von Moskau in allen für Belarus zentralen Fragen halten viele Beobachter genau diese Perspektive für zwingend und raten den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu einer moderaten Position in allen die Menschenrechte und die demokratischen Transformationsprozesse in Belarus betreffenden Fragen. Tatsächlich spricht jedoch vieles dafür, dass die zukünftige politische Orientierung von Belarus noch nicht als festgelegt, als besiegelt anzusehen ist. Verschiedene Kräfte - von innen und von außen - wirken auf die Entwicklung des Landes ein, also auch auf die Frage, ob der demokratische Transformationsprozess eine Zukunft hat.

Das so gefestigt erscheinende autoritäre Regime Lukaschenko verfolgt einen immer härter werdenden Kurs der politischen Einschüchterung nichtkonformer politischer und gesellschaftlicher Strukturen und schreckt dabei auch nicht vor groben Menschenrechtsverletzungen und einer ihresgleichen suchenden Willkürjustiz zurück, die das Land zutiefst spaltet und die Zahl der Anhänger Lukaschenkos auf die Nutznießer des Systems reduziert. Lukaschenko verliert die Unterstützung derjenigen, die sich als loyale Bürger an Gesetz und Ordnung zu halten gewohnt sind. Bei allem Glanz, mit dem das Regime die staatlichen Institutionen und die Prachtstrassen der wichtigsten Städte schmückt, wirken die bescheidenden Lebensverhältnisse der Bürger in den ungepflegten Mietkasernen und den zerfallenden Dörfern wie Hohn und Spott.

Das Land ist zutiefst gespalten, hat aber angesichts der allumfassenden wirtschaftlichen und sozialen Kontrolle durch das Regime nicht die Möglichkeit, aus eigener Kraft das Joch des Unrechtsregimes abzuwerfen. Abwanderung oder Resignation sind die Alternativen. Wer kann mit gutem Gewissen einem jungen Menschen empfehlen, im Lande zu bleiben und seine Zukunft zu schmieden. Junge Menschen, und nicht nur sie versuchen, im quasi kapitalistischen Russland, in der Ukraine, in den baltischen Republiken und - mit erheblich mehr Schwierigkeiten beim Zugang ins „Schengenland“ - in den Kern- oder Randländer der Europäischen Union oder auch in die Vereinigten Staaten von Amerika ihr Glück zu machen. Sie kehren ihrer Heimat - einem Land ohne Zukunft - den Rücken, und niemand vermag es ihnen zu verübeln. Die Alternative besteht in der persönlichen Korrumpierung durch das System.

3. Belarussische Staatstraditionen

Schon vor dem Untergang der Sowjetunion - genau genommen nach der Aufhebung des Monopols der KPdSU durch die Eliminierung des entsprechenden Artikels 6 aus der Sowjetverfassung von 1977 - regten sich in mehreren Teilrepubliken der Sowjetunion die Häupter der nationalen Bewegungen, sei es mit Gamsachurdia in Georgien und unter der Führung von Jeltsin in Russland selbst, und natürlich in den baltischen Republiken, die 1940 unterworfen worden waren, sowie mit Sianon Pasniak in Belarus. Er gründete im Jahre 1988 nach Aufdeckung des Massengrabs der von den Kommunisten in Kurapati verscharrten belarussischen Opposition - die Zahl geht in die Hunderttausende - eine belarussische Volksbewegung, die „Belarussische Nationale Front“ (BNF), die auf die Unterstützung von Hunderttausenden von Belarussen bauen konnte - jedenfalls zunächst. Diese Volksbewegung nahm die Tradition früherer Staatlichkeit mit belarussischer Amtssprache wieder auf, eine Staatlichkeit im Verbande mit Litauen und unter den Nationalfarben Rot-Weiss-Rot und dem Staatswappen Pagonje mit dem Fürsten von Polotsk als Reiter sowie mit dem Patriarchen- oder Doppelkreuz im Schilde. Belarus hat eine nicht russisch beherrschte politische Vergangenheit, die erst Ende des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den Teilungen Polens durch Russland, Österreich und Preußen verloren ging.

Auf diese frühere Unabhängigkeit beriefen sich nun Ende der achtziger Jahre die Anhänger der Nationalen Volksfront. Nach dem deutsch-sowjetischen Friedensschluss von Brest-Litowsk im März 1918 gelang es den belarussischen Nationalisten, für kurze Zeit eine eigene unabhängige Staatlichkeit zu errichten. Der Kern dieser Bewegung von 1918 lebt in der im Exil, in Kanada fortbestehenden Rada (Parlament) fort und macht von Zeit zu Zeit auch heute noch auf sich und das Unabhängigkeitsstreben der Belarussen aufmerksam. S. Pasniak, selbst ein bekannter belarussischer Schriftsteller und Dichter, und seine Gefolgsleute halten Belarus für ein von Russland besetztes Land und fordern die Anerkennung des Belarussischen als einziger Staatssprache. In der Tat bezeichnen bei Volkszählungen etwa 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung Belarussisch als ihre Muttersprache. Man muss nur hinzufügen, dass die russische Sprache in Verbindung mit der Sowjetisierung des Landes nach 1921 und vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Zuge des russisch gesteuerten Wiederaufbaus des Landes zur dominierenden Kommunikationssprache wurde. Heute kann allenfalls die Zweisprachigkeit durchgesetzt werden. Das gegenwärtige Regime betreibt einen teils subtilen, teils groben Russifizierungskurs und verdrängt das Belarussische aus dem Öffentlichen Leben. Dieser Akzent des Lukaschenko-Regimes macht das Regime verwundbar, weil er das Selbstverständnis der Belarussen als einer vom russischen Volk getrennten kulturellen, ethnischen und geschichtlichen Größe aufs Tiefste verletzt. Die Radikalität der Pasniak-Forderungen hat die anfangs starke nationale Erneuerungsbewegung geschwächt und heute zu einer politischen Randerscheinung werden lassen, deren potentielles Störpotential jedoch in den Amtsstuben des Alexander Lukaschenko und in den Amtsstuben des Kreml gefürchtet wird - insbesondere dann, wenn es zu einem Bündnis der Nationalisten mit demokratischen Kräften und den internationalen Fördermassnahmen für die Zivilgesellschaft in Belarus kommt. Dieses Bündnis besteht heute. Es umfasst aber nicht alle politischen und gesellschaftlichen oppositionellen Kräfte des Landes.

Eine Re-Integration von Belarus, die nicht in einem international effektiv überwachten Referendum legitimiert werden könnte, würde Russland mit einem neuen, einem zusätzliche Potential nationalistischer Unruhen konfrontieren. Hat es nicht schon genügend Konfliktstoff dieser Art am Halse?

4. Demokraten in Belarus

In allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben es die Förderer demokratischer Reformen schwer. Es mangelt nicht an formalen Reformschritten. Dahinter verbergen sich jedoch sehr oft die autokratischen, autoritären Praktiken der weiterhin an den Schalthebeln der Macht befindlichen Angehörigen der vorherigen Machtstrukturen, der Nomenklatur, vor allem bei der Vorbereitung und Durchführung von Wahlen. Schließlich gelang es international trainierten einheimischen Wahlbeobachtern, zum Beispiel in Georgien und in der Ukraine, die Wahlfälschungen der formal demokratisch organisierten, aber in der Sache in alter Manier manipulierten Wahlen offen zu legen, und zwar unmittelbar nach der Schließung der Wahllokale. In Belarus führte Lukaschenko nach den ebenfalls von lokalen Wahlbeobachtern offen gelegten Manipulationen der Parlamentswahlen im Jahre 2000 Verwaltungsmaßnahmen durch, die zur Neutralisierung der unabhängigen einheimischen belarussischen Wahlbeobachter bei den Präsidentschaftswahlen im September 2001 führten. Das gelang ihm allerdings nur partiell bei den „Exit Polls“.

Der Aufbau einheimischer Wahlbeobachter-Netzwerke, die sich im schwierigen Ringen mit den autoritären Wahlkommissionen ihre Sporen verdienen müssen, stellt einen Erfolg versprechenden Pfad zur Verbreitung demokratischer Werte und zur Vertiefung des Verständnisses für Zivilgesellschaft und Eigenverantwortung des Bürgers unter den Rahmenbedingungen der postkommunistischen Welt dar. Das ist eine Welt, in der heute mit dem Ruf nach dem starken Staat zivilgesellschaftliche Entwicklungen erneut unter die Fittiche der Staatskontrolle ohne die Möglichkeit der rechtlichen Überprüfung von staatlichen Entscheidungen durch ein Verwaltungsgericht gepresst werden.

Auch die demokratischen Kräfte bedürfen also der Bündnispartner, einer Koalition mit weiteren Kräften in der Gesellschaft, um dem autoritären Regime erfolgreich widerstehen und in einer freien und fairen Wahl als Sieger aus dem Wahlkampf hervorgehen zu können.

Zu den bedeutenderen Parteistrukturen gehören in Belarus auch die allerdings mehrfach gespaltenen Sozialdemokraten (Statkevitsch, Schuschkewitsch, Kazulin), sowie die Vereinigte Bürgerunion mit liberalen, aber auch konservativen Kräften, schließlich die in Anlehnung an die Gewerkschaften gebildeten Arbeiterpartei, und die Frauenpartei.

Nichtregierungsorganisationen stehen der einen oder anderen Partei nahe und stellen vielfach finanzielle Mittel bereit sowie Personal für die einheimische Wahlbeobachtung.

Administrative Hindernisse wie das Erfordernis der Registrierung von Büroräumen, die aber zum Anmieten nicht zur Verfügung gestellt werden, knebeln bewusst die Entfaltung der Parteien und beeinträchtigen die Bildung von kommunalen Bürgergesellschaften.

In allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion spielen die großen gesellschaftlichen Organisationen der Sowjetperiode – Gewerkschaften, Frauen- und Jugendorganisationen, denen bei der Versorgung der Sowjetbürger mit Lebensmitteln, Ferienplätzen und Opernbillets mancherlei soziale Aufgaben zufielen – bei der Meinungsbildung breiter Teile der Bevölkerung in aktuellen politischen Fragen zumindest psychologisch eine ins Gewicht fallende Rolle. Zwar führte Gorbatschow die „Arbeiterräte“ ein, um die Macht der sowjetischen Gewerkschaften zu brechen, aber in der postsowjetischen Zeit fiel doch den tradierten gesellschaftlichen Strukturen die Rolle zu, den neuen autoritären Regimes die Stirn zu bieten - im Interesse der Arbeitskräfte. Dies geschah jedenfalls in Belarus. Dort rebellierten in den Jahren 2000-2001 sowohl die Gewerkschaften, die offiziellen wie die freien, gegen die Regierung, gewannen internationale Unterstützung in der ILO, der internationalen Arbeitsorganisation, wie auch die Jugend- und Studentenorganisationen. Gespalten hatten sich die Frauen-Organisationen.

5. Die Konfrontation der Zivilgesellschaft mit Lukaschenko

Als Quintessenz aus der Analyse des politischen Spektrums der Zivilgesellschaft in Belarus deutet sich an, dass die Machtposition Lukaschenkos heute zwar brüchig ist, aber im Wege einer skrupellos geführten Einschüchterungskampagne einschließlich strafrechtlicher und administrativer Verfolgung von Dissidenten in der Nomenklatur, also in der eigenen Verwaltung, sowie durch Spaltungsaktionen gegen die politische und gesellschaftliche Opposition gesichert werden kann. Solange es im politischen und gesellschaftlichen Oppositionslager nur möglich ist, vorübergehende Allianzen oder Koalitionen zu schaffen, also keine umfassende und belastbare Koalition zu bilden, die sich auch auf ein gemeinsames Regierungsprogramm einigen kann, das mittels international operierender Radio-und Fernsehstationen in alle Ecken des Landes ausgesendet werden kann, fehlt es an einer wichtigen Voraussetzung für die politische Anerkennung der Opposition als möglicher Alternative zu Lukaschenko in Moskau und für eine zielgerichtete politische Unterstützung durch die Europäische Union.

Allerdings ist das Unruhepotential der Bevölkerung selbst, wie es sich - ungeachtet widriger Wetterverhältnisse - bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen gezeigt hat, ein Wetterleuchten, das von Lukaschenko ernst genommen werden muss. Die innere Lage des Landes ist bei aller nach außen zur Schau gestellten Stabilität im Grunde labil und kann bei Verkettung verschiedener Umstände jederzeit virulent werden. Die politische Opposition beschäftigt sich gerade unter diesem Gesichtspunkt mit der Lage nach den Wahlen und bereitet Entscheidungen über die Strategie für die weitere politische Auseinandersetzung mit dem Regime vor. Im Januar 2007 finden Kommunal- und Regionalwahlen statt, und im Jahre 2008 erneut Parlamentswahlen.

Jetzt werden die Weichen für die Strategien in diesen Wahlen vorbereitet und getroffen.

Moskau wird dem belarussischen Diktatur weitere Konzessionen abringen - bei den Preisen für Öl und Gas und bei der Übertragung von industriellen und anderen wirtschaftlich relevanten Kapitalwerten in russische Hände im industriellen und kommerziellen Bereich. Kann Lukaschenko die gemeinsame Währung mit einem Emissionszentrum vermeiden? Für ihn und in einem anderen Sinne für ein unabhängiges Belarus steht viel auf dem Spiel.

6. Belarus und die Europäische Union

Europa kann Vieles tun, um die Unabhängigkeit des Landes zu stützen und die Demokratie im Lande zu fördern. Seit 1991 haben die Europäische Union und der Europa-Rat tatkräftige Unterstützung bei den Bemühungen der postsowjetischen Regierungen in Belarus geleistet, die Strukturen des kommunistischen Staats- und Gesellschaftsaufbau durch demokratische und marktwirtschaftliche Strukturen zu ersetzen. Im Vordergrund standen jedoch aus der Sicht des Nordatlantischen Bündnisses Vereinbarungen über den Abbau der in Belarus – wie auch in der Ukraine und in Kasachstan - stationierten früheren sowjetischen Nuklearwaffen- und Raketensysteme.

Bei der Einschätzung der ersten Demokratisierungsschritte in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sollte man sich keine Illusionen machen: Mit der Annahme neuer gesetzlicher Rahmenbedingungen ist noch nicht die Mentalität der Menschen in den vom Sowjetsystemen geprägten Ländern. Die Reformen der Gorbatschow-Zeit waren eben nicht von den demokratischen Reformkräften im Lande ausgegangen, sondern von den Reformkräften innerhalb des sowjetischen, des kommunistischen Systems. Als sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschlechterten nahm auch der demokratische Reformwillen rasch ab, sofern er denn überhaupt vorhanden gewesen war. Restaurative Kräfte konnten die Oberhand gewinnen. Die überkommene sowjetische Vorstellung „demokratischer Prozesse“, nämlich die affirmativen Zustimmungsakte der Bevölkerung bei Wahlen und Referenden auch unter Inkaufnahme von Wahlmanipulation herbeizuführen, erschien als die probate Form der Demokratie für die postsowjetische Sphäre auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion – ausgenommen die baltischen Republiken, die in der Zwischenkriegszeit quasi-demokratische politische Entwicklungen erlebt hatten und jetzt auf größtmögliche Distanz zu Russland gingen. Immerhin, Belarus erhielt den Gaststatus beim Europarat und zeichnete mit der Europäischen Union einen „Vertrag über Zusammenarbeit und Partnerschaft“, dessen Ratifikation aber nach dem Verfassungscoup von Alexander Lukaschenko im November 1996 auf Eis gelegt wurde. Seither hat sich nichts getan – weil eben Lukaschenko Schritt um Schritt dem Land ein neo-sowjetisches System mit einer autoritären Staatsideologie anstelle der Ideologie der kommunistischen Lehre auferlegt hat, das er auch als die natürliche Staatsform für Russland und die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ansieht. Die vorübergehend im Jahre 1999 eingeräumte Verhandlungsbereitschaft mit der demokratischen Opposition des Landes wurde nach der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der an der OSZE beteiligten Staaten (Istanbul, November 1999) wieder suspendiert. Seither versucht die Europäische Union – Kommission, Präsidentschaft, Troika – Lukaschenko schrittweise auf einen genuinen Reformkurs festzulegen – ohne Erfolg. Nur schrittweise gewinnen den Regierungen der Mitgliedstaaten der EU die Einsicht, dass die auf die Mitwirkung Lukaschenkos gerichtete Demokratieförderung durch die Europäische Union gescheitert ist und durch eine pro-aktive Politik mit der Zivilgesellschaft ersetzt werden muss. Gleichwohl wird die Masse der Mittel aus den EU-Fonds für Demokratie und Menschenrechte immer noch für Projekte ausgelobt, die nur mit der Zustimmung der Belarus-Regierung umgesetzt werden können. Diese Zustimmung wird – wenn überhaupt – zum spätesten möglichen Zeitpunkt gegeben oder verweigert. Die Mittel verfallen ungenutzt – im Interesse von Lukaschenko.

7. Europa und die Zivilgesellschaft in Belarus

Im November 1990 vereinbarten die Staats- und Regierungschefs der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeite im Europa“ in der schon oft zitierten „Charter von Paris“ die Transformation aller Teile Europas in pluralistische Demokratien, soziale Marktwirtschaften und Staatsstrukturen mit Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz und dem Respekt vor den individuellen Menschenrechte. Verschiedene Verfahren zur Unterstützung dieses Transformationsprozesses vor allem in der Sowjetunion – später in den Nachfolgestaaten - und in den anderen ost-mitteleuropäischen und südeuropäischen Staaten wurden verabredet. Später wurde die KSZE in eine Organisation mit permanenten Institutionen umgewandelt (OSZE).

Nicht unerfahren in der systematischen, nachhaltigen und projektgebundenen Förderung demokratischer Transformation nahmen die Europäischen Institutionen die große Aufgabe an, die Spaltung Europas zu überwinden und den nun frei gewordenen Nachbarstaaten in Europa die bahn brechenden Veränderungen vorzustellen, mit denen die imperialen und hegemonialen Tendenzen der Vergangenheit überwunden und belastbare Grundlagen für ein vereintes freies Europa geschaffen worden waren. Die von der Sowjetunion unterworfenen Staaten Mittel- und Südosteuropas strebten bald die Mitgliedschaft in der Europäischen Union und in NATO an, aber der Elan der Beschlüsse vom November 1991 in Paris stieß in der eigentlichen postsowjetischen Welt – mit Ausnahme des Baltikums – auf zunehmende Skepsis, ja Ablehnung.

Angesichts des Zusammenbruchs der Volkswirtschaften in diesen bislang auch in Wirtschaftsangelegenheiten zentristisch geführten Ländern brachen schwere Zeiten für die Bürger an. Der Ruf nach dem starken Staat, einer Art starker Regierung ohne den ideologischen Überbau des Kommunismus verdrängte die politisch mit der Charter von Paris im Jahre 1990 übernommenen Verpflichtungen zur demokratischen Transformation, einer Demokratie, die man nur aus der sowjetischen Negativpropaganda kannte, und für die es außer den offiziellen Proklamationen kaum genuine Initiativgruppen gab.

Gleichwohl, in vielen Nachfolgestaaten, so auch in Belarus, fand ein Neuanfang statt - getragen von der gestrigen Nomenklatur, da ja unter Sowjetbedingungen keine unabhängige demokratische, liberale oder konservative politische Parteienbildung möglich gewesen war und wahrgenommen durch eine Bevölkerung, die fortfuhr, als loyale Staatsbürger in einem Obrigkeitsstaat alles vom Staat zu erwarten, nämlich Ausbildung, Gesundheit, Arbeitsplatz, Sicherheit, Rente/Pension und im Interesse aller dieser Leistungen des Staates eine staats- und systemtreue Bevölkerung darstellte.

Investigativer Journalismus, kontrovers diskutierende Parlamente und der Ruf nach unabhängigen Gerichten sowie politischer Transparenz blieben die Ausnahme und fanden kaum eine Resonanz in der Öffentlichkeit. Mafia-Kreise betrieben Rachejustiz.

Auf vielfältige, meist nicht koordinierte Art und Weise präsentierten sich den früheren Sowjetadministratoren die westlichen Berater in Sachen Demokratie, Marktwirtschafts- und Gewaltenteilung sowie unabhängige Justiz.

Eine oft widersprüchliche, formal korrekte Nachfolgestruktur entwickelte sich auf dem Boden der früheren Sowjetunion. Gelenkte Demokratien oder auch neosowjetische Autoritätssysteme resultierten aus dieser Phase der nachsowjetischen Periode - in fast jedem Fall jedoch ein Negativbild der westlichen, der europäischen Vorstellungen von und über Demokratie.

In keinem Land der postsowjetischen Welt wurde indes die Re-Orientierung der staatlichen Strukturen nach europäischen Vorbildern oder Wertmassstäben so brutal und unnachgiebig verdrängt und unterdrückt wie in Belarus, einem Land mit gespaltenem Staatsbewusstsein – gen Westen, gen Osten. Während die USA aus übergeordneten strategischen Gründen offen die gesellschaftliche und politische Opposition gegen dieses Regime stützen und Regimewechsel fordern, hoffte und hofft die Europäische Union als Ganzes – abgesehen von einigen Regierungen, die auch eine stärkere, die Reformen fordernde Politik der Stützung der Opposition fordern – auf eine Re-Orientierung von Lukaschenko zugunsten einer ausgewogenen Politik seines Landes nach Osten (Russland) und Westen (Europäische Union), ohne allerdings Versprechungen oder Festlegungen hinsichtlich einer späteren Mitgliedschaft in der EU machen zu wollen oder machen zu können.

Bislang scheiterten die Versuche, im Europäischen Rat eine pro-aktive Politik zugunsten der Oppositionskräfte in der belarussischen Zivilgesellschaft zu vereinbaren, ungeachtet des Umstandes, dass eine Reihe unmittelbar oder mittelbar berührter Mitgliedstaaten sich für einen solchen Kurswechsel aussprechen.

Was wird mit guten Gründen von der Europäischen Union gefordert:

• Ernennung eines Belarus-Beauftragten zur Koordinierung aller die neue Politik ausmachenden Aktivitäten auf europäischer und bilateraler Weise. Im sollte eine Gruppe von hochrangigen, auch für internationale Gespräche geeigneten Sachverständigen aus mehreren EU-Ländern zugeordnet werden

• Bildung eines Belarus-Demokratie-Fonds der EU und einer Koordinationsgruppe für Kontakte mit anderen Sponsoren

• Beratungsforen für die politische und gesellschaftliche belarussische Opposition in Ländern außerhalb von Belarus (Entwicklung eines gemeinsamen Wahl- und Regierungsprogramms)

• Landesweit nach Belarus ausgestrahlte Fernseh- und Rundfunkprogramme aus Ländern der EU – vorzugsweise zu koordinieren durch eine gemeinsamen Ausschuss, dem auch Personen aus Nicht EU-Mitgliedstaaten angehören können.

• Stipendienprogramme für Studenten

• Unterstützung organisierter Berufs- und Politikgruppen durch nationale und internationale Partnerorganisationen , (z.B. VN-Sonderorganisationen wie ILO,)

• Jugend-, Schüler- Studentenbesuchsprogramme nach Mittel- West- und Südeuropa

• Organisation integrierter, sicherheitsgeschützter einheimischer Wahlbeobachtung und „Exit Polls“ für die Kommunalwahlen (Frühjahr 2007) und Parlamentswahlen (Sommer 2008)

• Internationale Wahlbeobachtung (OSZE, EU-Parlament, Europa-Rat-Team)

• Internationale Konferenzen über den Demokratisierungsprozess in Osteuropa, vor allem in Belarus; parlamentarische Resolutionen zu Belarus auf nationaler und auf europäischer Ebene, einschließlich USA und Kanada.

Mit diesem umfassenden Programm könnte die Europäische Union unter der Bevölkerung Vertrauen dafür gewinnen, dass Europa an der Seite der unterdrückten Bevölkerung steht - wohl wissend, dass eine Aufnahme des Landes in die Europäische Union nicht von Heute auf Morgen realisiert werden kann, sondern einen langwierigen Vorlauf verlangt.

Mit dem hier vorgestellten Programm könnte die politische und gesellschaftliche Opposition in Belarus die Bevölkerung, die Bürger und Bürgerinnen im Lande erreichen, das vom Regime erzwungene Informationsdefizit beseitigen, eine politische Debatte einleiten und die Zugehörigkeit zu einem freien und demokratischen Europa zu einer realistischen Alternative zur gegenwärtigen politischen Selbstisolierung werden lassen. Im Augenblick tritt die Europäische Union als gestaltende Kraft in der Vorstellungswelt, im Bewusstsein der Menschen in Belarus, kaum in Erscheinung.

Es ist auch wichtig für die Opposition im Lande, jederzeit politisch handlungsfähig zu sein und im In- und Ausland die Glaubwürdigkeit zur Regierungsfähigkeit zu gewinnen. Vorbereitungen dafür und für freie und faire Wahlen können nicht erst eingeleitet werden, wenn sich eine Möglichkeit für freie und faire Wahlen unerwartet ergeben sollte.

Auf diesem Felde, dem wichtigsten des angestrebten politischen Prozesses, muss die Opposition jederzeit handlungsfähig sein.

Berlin, Juli 2006

Berlin, Juli 2006


Hans-Georg Wieck

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