Saturday, January 26, 2013


Belarus und Europa

Belarus und Europa
Von Hans-Georg Wieck

Hans-Georg Wieck
I. Die Politik der Neuen Nachbarschaft der Europäischen Union mit Osteuropa

Die Erweiterung um mehrere mitteleuropäische Länder am 1. Mai 2004 macht auch Belarus zu einem der unmittelbaren Nachbarstaaten der Europäischen Union. Mit dem vom Europäischen Rat am 16./17. Juni 2004 angenommenen Grundsätzen für eine Politik der Neuen Nachbarschaft ist grundsätzlich die Tür zu neuen, zu vertieften Beziehungen auch mit Belarus - wie mit den anderen Nachbarstaaten Europas - weit aufgestoßen worden, die auf absehbare Zeit nicht selbst Mitglied der Europäischen Union werden können, auch wenn sie es anstreben sollten. Zu Belarus heißt es:

„Belarus wird ebenfalls in den Genuss sämtlicher Vorteile des Europäischen Nachbarschaftspolitik gelangen können, wenn das Land nach freien und fairen Wahlen eine demokratische Regierungsform eingeführt hat; eine verstärkte Unterstützung der Bürgergesellschaft in Belarus wird den Aufbau eines demokratischen, stabilen und wohlhabenden Landes unterstützen“

Nach dem Konzept dieser neuen politischen Richtlinie sollen mit jedem der in frage kommenden Nachbarstaaten der Europäischen Union Aktionsprogramme ausgehandelt werden, die zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Nachbarstaaten und zur Annäherung der Nachbarstaaten an die wirtschaftspolitischen und politischen Ordnungsprinzipien der Union beitragen könnten. Die neue Initiative der Europäischen Union geht über die Grundsätzen hinaus , die von der Europäischen Union in ihren Beziehungen mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Form von Partnerschafts- und Kooperationsverträgen und auf der Grundlage der gemeinsamen Ost-West Dokumente der damaligen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Kopenhagen im Juni und vom November 1990 in Paris verabschiedet worden waren. Diese Dokumente stellen aber die international verankerte politische, zum Teil auch völkerrechtlich relevante Festlegung der ost- und mitteleuropäischen Länder auf den demokratischen Transformationsprozess dar, der eine sozial abgesicherten Marktpolitik sowie die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit zu garantieren und den Abbau staatlicher Kontrollen über die wirtschaftlichen Aktivitäten von Bürgern und Firmen einschließen soll.

Das offizielle Belarus kann gegenwärtig an der neuen Europäischen Nachbarschaftspolitik, die ja konkrete gemeinsam ausgearbeitete Aktionsprogramme mit jedem Partnerland anstrebt, nicht teilnehmen, weil es sich seit 1996 mit seiner starren neosowjetischen und undemokratischen Staatspolitik sowie undemokratischen Verfassung von den politischen Hauptströmungen in Europa gelöst und in politische Selbstisolierung begeben hat. Minsk genießt allerdings in allen wichtigen Fragen die Unterstützung Russlands und der russischen Führung.

Die Zivilgesellschaft soll gleichsam als Teil der neuen Nachbarschaftspolitik verstärkt über das TACIS Programm, das für die nächsten Jahre von 5 auf 10 Millionen € aufgestockt wird, beteiligt werden. Seine Durchführung ist allerdings mit einigen schwer zu nehmenden Hürden befrachtet, insbesondere wegen des Zustimmungsvorbehalts der belarussischen Regierung und wegen der belarussischen Besteuerung.

Die belarussische Führung sieht die Beziehungen mit der Europäischen Union in anderem Licht und mit einer anderen Perspektive als die Mitglieder der EU und die EU in ihrer Gesamtheit. Eigentlich kann es keinen Zweifel an der grundsätzlichen politischen Konfliktsituation geben, aber oft werden die Augen vor diesem Konflikt geschlossen und wird den Konsequenzen derer Konfliktsituation gemieden.

Belarus fordert die Anerkennung des Regimes in seiner jetzigen Gestalt durch die Europäischen Institutionen. Belarus fordert, wie es vom belarussischen Außenminister Martynow immer wieder vorgebracht wurde, die faktisch gegebene Lage in Belarus anzuerkennen und Verhandlungen über konkrete, über praktische Fragen wie das Grenzregime, den Handel, den Verkehr und die Infrastruktur zu führen.

Lukaschenko erwähnt gelegentlich auch öffentlich die Forderung nach finanzieller Unterstützung von der Internationalen Organisation für Bevölkerungswanderungen (IMO) und von den europäischen Staaten für die Unterbindung der illegalen Einwanderung aus dem postsowjetischen Traum auf dem Wege über Belarus nach dem Westen.

Auch kontroverse Fragen könnten, so meinte Außenminister Martynow mehrfach, behandelt werden. Die belarussische Regierung lehnt jedoch die Forderung der Europäischen Union auf belarussische Vorleistungen im Bereich des Demokratisierungsprozesses ab.

Lukaschenko zieht eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht in Betracht, nutzt aber das Beispiel der Europäischen Union als Bezugsgröße für seine Integrationsvorstellungen für den postsowjetischen Raum. Die Zurückhaltung gegenüber der Europäischen Union hat nicht nur innenpolitische Gründe, sondern stellt auch eine „Dienstleistung“ für russische Interessen dar. Moskau wünscht eine Annäherung von Belarus an die Europäische Union zu verhindern und die engere Verknüpfung von Belarus mit der Russischen Föderation als Option für die Zukunft offen zu halten. Bemühungen westlicher Regierungen und nichtstaatlicher Stellen, Moskau für eine Politik der Demokratisierung von Belarus im klassischen westeuropäischen Sinne zu gewinnen, sind bislang gescheitert. Die „russische Karte“ ist keine glaubwürdige Option in den westlichen Strategien für die Bemühungen um eine Demokratisierung von Belarus.

Demgegenüber treten heute fast alle politischen und gesellschaftlichen Oppositionsgruppen in Belarus für eine enge Verknüpfung mit der Europäischen Union, ja in vielen Fällen auch für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ein. Eine der Gruppierungen, nämlich die von den Sozialdemokraten geführte Koalition für die Wahlen nennt sich ausdrücklich „Europäische Koalition“. Lediglich die parlamentarische Gruppe „Respublika“ unter Führung von V. Frolow wünscht sich in allererster Linie eine Annäherung an Russland.

Das Eintreten für die Annäherung an die Europäische Union hat für die politischen und gesellschaftlichen Oppositionsgruppen strategische und psychologische Bedeutung. Fachleute wissen, dass die Mitgliedschaft in Europa auf absehbarer Zeit nicht möglich ist. Aber sie erwarten von der Europäischen Union eine konkrete und kontinuierliche Unterstützung in ihrem Kampf um die Geltung des Rechts, der Unabhängigkeit der Gerichte, um individuelle Menschenrechte, Demokratie und Marktwirtschaft. Und sie erwarten von den benachbarten neuen Mitgliedern der Europäischen Union die Unterstützung bei anderen Mitgliedstaaten, zum Beispiel in Berlin und in den europäischen Institutionen in Brüssel für ihren Kampf gegen das Lukaschenko-Regime. Sie spüren, dass die Annäherung an die Europäische Union die einzig glaubwürdige Strategie gegenüber dem Druck auf Anpassung an den großen russischen Nachbarn ist. Aber die Parteien fragen sich vor dem Hintergrund der Entwicklung der letzten zehn Jahre, ob die Europäische Union, ob die Mitgliedstaaten den starken Worten für die Sache der Demokratie, der Menschenrechte und der Geltung des Rechts in Belarus in Zukunft auch Taten folgen lassen werden. Manche fürchten, dass es aus Gründen der Rücksichtnahme auf die Interessen Moskaus bei den unterstützenden Worten bleibt. Es gibt in Brüssel auch zu viele bürokratische Hürden, die einer wirksamen und kontinuierlichen Unterstützung der Zivilgesellschaft bei der Entwicklung von politischen und gesellschaftlichen Strukturen im Wege zu stehen scheinen. Das Problem Lukaschenko und die Unterdrückung der demokratischen und der gesellschaftlichen Oppositionen scheinen in den europäischen Hauptstädten und in der Europäischen Union selbst keine hinreichende Priorität zu genießen. Schnell ist das Argument an der Hand, dass es keine nennenswerte und unterstützungswürdige Opposition gegen Lukaschenko gäbe. Den Meinungsumfragen, die etwas anderes aussagen, wird misstraut.

Der Verpflichtung zur Entwicklung von liberalen Demokratien kommen die an der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) mitwirkenden Staaten und deren Regierungen nicht in allen Teilen Europas mit der gleichen und in vielen Fällen nicht mit der gewünschten Intensität nach. Wegen des Erfordernisses des Einvernehmens bei Entscheidungen ist die OSZE selbst, also im Ständige Rat und gegebenenfalls bei Ministertreffen – einen Gipfel der Staats- und Regierungschefs hat es wegen Unstimmigkeiten seit dem Gipfel in Istanbul im Jahre 1999 nicht mehr gegeben – ist die Wirksamkeit der OSZE bei der Förderung von demokratischen Transformationsprozessen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion – ausgenommen die baltischen Republiken und Georgien – an Grenzen gestoßen, an schmerzliche Grenzen, welche die Glaubwürdigkeit der OSZE in Frage stellen. Nur in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE ist es noch möglich, kritische Resolutionen durchzubringen.

Osteuropäische Ländern nehmen eine zunehmend negative Haltung gegenüber westlichen Forderungen auf dem Felde der Demokratie, der Menschenrechte und der Geltung des Rechts ein. Das gilt vor allem für Russland und Belarus, in den zentralasiatischen und zum Teil in den kaukasischen Republiken, aber in Grenzen auch für die Ukraine. Sie ist allerdings grundsätzlich kooperationsbereit ist, weil sie die Mitgliedschaft in NATO und in der Europäischen Union anstrebt.

II. Gewaltsame Verfestigung des Lukaschenko-Regimes im Interesse des Machterhalts

Der neosowjetische Staat Belarus unter der autoritären Führung von Alexander Lukaschenko entzieht sich dem Drängen der europäischen Institutionen – Europäische Union, Europarat und OSZE – nach demokratischen Reformen. Er baut auf russische Toleranz in diesen Fragen und hat schrittweise ein dem untergegangenen sowjetischen Staatswesen nachgebildetes autoritäres Regime errichtet, das nur der Form nach demokratische Rechte – freie Presse, unabhängige politische Parteien und Nichtregierungsorganisationen – toleriert, ihnen aber keine fairen Bedingungen in den Wahlen und im öffentlichen Leben einräumt, ganz zu schweigen von der Justiz, die zu einem gefügigen Werkzeug in der Hand der Exekutive, in der Hand des Präsidenten wurde.

Im November 1996 hob der nach demokratischen Regeln im Juli 1994 auf der Grundlage der im Mai 1994 angenommenen Verfassung zum ersten Präsidenten gewählte Alexander Lukaschenko eben diese demokratische Verfassung im Wege eines manipulierten Referendums über Verfassungsentwürfe des Präsidenten und der parlamentarischen Opposition auf und installierte zügig das bis heute bestehende autoritäre neosowjetischen Machtsystem.

Aus der langen Liste von Maßnahmen, die Lukaschenko mit dem Ziel unternahm, den 1991 eingeleiteten genuinen demokratischen Transformationsprozess zu beenden und zu einer neosowjetischen Form eines autoritären Staates zurückzukehren, sind die besonders gravierenden Ereignisse und Schritte in Erinnerung zu rufen:

- die Auflösung des 1996 gewählten Parlaments, des 13. Obersten Sowjets

- die Ernennung eines dem Präsidenten ergebene Abgeordnetenhauses im November 1996

- die Konzentration aller staatlichen Macht im Amt des Präsidenten, dessen Budget keiner öffentlichen Kontrolle unterliegt, und dessen Wiederwahl keiner verfassungsmässigen Begrenzung mehr unterliegt

- die Verlängerung der ersten Amtsperiode des Präsidenten um zwei Jahre bis zum Jahre 2001

- die Aufhebung der unabhängigen Justiz

- die Manipulation von Wahlen auf jeder Ebene – der kommunalen, wie der regionalen Ebene und bei Parlaments und Präsidentschaftswahlen - - seit 1999

- die Einschüchterung der politischen Opposition, der unabhängigen Presse und von unabhängigen Nichtregierungsorganisationen, zum Beispiel des angesehenen Belarus Helsinki Komitees durch Diffamierung, Strafverfolgung und das Verschwindenlassen von Oppositionsführer.

Als jüngste Schritte auf dem Wege zu einem totalitären Staat reihen sich folgende Maßnahmen in die lange Kette von Unterdrückungsmaßnahmen ein:

- die Verkündung eines Staatsideologie, die zum obligaten Lehrstoff an allen Ausbildungsstätten des Landes gemacht wird

- die Schließung der einzigen unabhängigen Universität, der der Europäisch- Humanistischen Universität (EHU) im August 2004

- die Revision der Verfassung von 1994/96 im Wege eines Referendums in Verbindung mit den Parlamentswahlen am 17. Oktober 2004 mit dem Ziel, die Begrenzung der Amtszeit eines Präsidenten auf zwei Amtsperioden von je 5 Jahren. Das Referendum stellte die Frage nach der Wiederwahl des Präsidenten und die Frage nach der Veränderung der Verfassung in einer Weise, die keinerlei Begrenzung der Wiederwahlmöglichkeit mehr enthält.

Andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion, vor allem im zentralasiatischen Raum haben die Begrenzung der Wiederwahl der Präsidenten ebenfalls aufgehoben, allerdings bislang nicht die Russische Republik. Moskau hat in keinem Fall politisch interveniert und sich auch öffentlicher Kritik enthalten. Im Gegenteil: Nach dem furchtbaren terroristischen Angriff auf den Schulkomplex in Beslam mit über 500 Toten hat Präsident Putin eine Reihe von Veränderungen für die obersten politischen Institutionen vorgeschlagen, die zu einer Stärkung der zentralen Exekutive führen sollen, u. a. die Aufhebung der Wahl der Gouverneure in den 89 Föderationssubjekten. Die Gouverneure sollen in Zukunft wieder von der Zentrale ernannt werden. Ein wesentliches Element eines genuinen föderalen Systems wird damit beseitigt. Das gegenwärtige Wahlgesetz legt ein Mischsystem bei den Duma-Wahlen fest: 50 Prozent der Abgeordneten gehen nach dem Verhältniswahlrecht aus den Listenwahlen der Parteien hervor; 50 Prozent nach dem Mehrheitswahlrecht in den Wahlkreisen. Das gegenwärtige Wahlrecht soll durch die alleinige Abstützung auf die Listenwahl nach dem Verhältniswahlsystem abgelöst werden. Putin verteidigt diesen Rückschritt in Sachen Demokratie mit der Notwendigkeit eines starken Staates, um Russland gegen das Chaos, den fundamentalistischen Terrorismus und auch gegen unterminierende ausländische Einflüsse zu schützen.

III. Förderung des demokratischen Transformationsprozesses in Belarus durch die Europäischen Institutionen

Die Europäischen Institutionen haben zahlreiche Versuche unternommen, Brücken für die Rückkehr von Belarus nach Europa zu bauen. Die Rückkehr ist jedoch von demokratischen Reformen nach OSZE Standards und den Prinzipien des Europarats abhängig. Belarus kann diese Rückkehr durch Reformen des Regimes selbst, durch Reformen im Wege der Verständigung zwischen Regierung und Opposition, oder aber im Wege des Machtgewinns durch die politische und gesellschaftliche Opposition bei freien und fairen Wahlen erreichen. Staatsstreiche würden lediglich einen Wechsel in der Führungsperson, aber nicht in der Führungsstruktur zur Folge haben.

Die OSZE richtete mit Zustimmung der belarussischen Regierung im Dezember 1997 eine Berater- und Beobachtergruppe in Minsk ein, die den Auftrag hatte, die Bildung demokratischer Institutionen zu fördern und die Einhaltung der OSZE Standards, insbesondere der Menschenrechte zu beobachten. Nach Anfangserfolgen im Jahre 1999, zum Beispiel der Unterschrift auch Lukaschenkos unter eine OSZE Erklärung der teilnehmenden Staats- und Regierungschefs im November 1999, die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition über eine begrenzte liberale, eine demokratische Reform vorsah, nahm Lukaschenko - wie schon bei anderer Gelegenheit– diese Konzessionen nach dem OSZE Gipfel in Istanbul wieder zurück und den Repressionskurs wieder auf.

Die Europäische Union sah sich daher gezwungen, die vom Westen nach dem nicht anerkannten Verfassungscoup vom November 1996 verhängten Sanktionen vom 15. September 1997

- keine Einladungen an Präsident Lukaschenko und an Regierungsmitglieder in die EUMitgliedstaaten;

- Suspendierung des Ratifizierungsverfahren für den bereits unterzeichneten Kooperations- und Partnerschafts-Vertrag der Europäischen Union mit Belarus, sowie

- Suspendierung der Entwicklungskooperation

aufrechtzuerhalten und von Zeit zu Zeit auch zusätzliche Maßnahmen zu treffen, um der belarussischen Führung zu signalisieren, dass eine substantielle Verbesserung der Zusammenarbeit und der Beziehungen von der Rückkehr des Landes auf den Weg der Reformen und der demokratischen Transformation abhängig ist. Freie und faire Wahlen hat es seit 1996 nicht mehr gegeben. Die Europäische Union muss daher ihre in früheren Jahren angenommene und im Jahre 2002 bestätigte Strategie des schrittweise Vorgehens in Kooperation mit der Lukaschenko-Regierung überdenken, nämlich darauf zu warten, dass sich Lukaschenko zu demokratischen Reformen entschließt und in diesem Fall die Sanktionen der Europäischen Union nach und nach aufgehoben werden können.

Seit 2001 engagiert sich die Europäische Union grundsätzlich und in praktischer Beziehung in der Unterstützung der Entwicklung einer vom Staate unabhängigen Zivilgesellschaft. Politische und gesellschaftliche Strukturen eben der Zivilgesellschaft sollen - unterstützt von der freien Presse - letzten Ende in der Lage sein, als demokratische Alternative zum autoritären Staat die Bevölkerung in freien und fairen Wahlen für sich zu gewinnen.

Eine alternative politische Strategie könnte darin bestehen, zwar die Beziehungen zu Lukaschenko aufrecht zu erhalten, aber auf verschiedenen Wegen gleichzeitig die Hilfe zu geben, welche die Zivilgesellschaft braucht, um sich in einem langwierigen politischen Ringen erfolgreich um die Unterstützung durch die Bevölkerung bemühen zu können. Dabei spielen die Massenmedien – elektronische wie digitale, welche das ganze Land erreichen können - eine entscheidende Rolle. Von Bedeutung sind ebenfalls die gedruckte freie Presse, Ausbildungsmöglichkeiten und strukturierte politische Beratung.

Ansatzpunkt für die Entwicklung einer neuen Strategie gegenüber Belarus könnte auch das Neue Nachbarschaftsprogramm der Europäischen Union vom. 17./18. Juni 2004 sein, dessen Implementierung nun die Aufgabe der neuen Kommission sein wird – in Abstimmung mit dem Europäischen Rat. Die Abwicklung solcher Programme im Wege des zur Zeit wegen belarussischer Steuerforderungen suspendierten TACIS Verfahrens - also eines in Abstimmung mit der Regierung des Partnerlandes vorbereiteten und abgewickelten Programms - verbietet sich, da die belarussische Regierung einem solchen Demokratisierungsprogramm ihre Zustimmung verweigern wird. Gleichwohl wird man diesen Versuch unternehmen und erneut in eine Sackgasse geraten.

Die Europäischen Institutionen, und zwar nicht nur die der Europäischen Union, sondern auch der Europarat und die OSZE, und die Mitgliedstaaten selbst sollten keinen Zweifel daran haben, dass die Bevölkerung in Belarus nicht nur genau beobachtet, wie sich die russische Führung gegenüber Lukaschenko und der Opposition verhält, sondern auch die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten. Nach dem Beitritt der mitteleuropäischen und der baltischen Staaten zu NATO und zur Europäischen Union hat die Europäische Union nach dem Stand vom Juni 2004 unter der Bevölkerung – bei der führenden Schicht in weit höherem Masse als bei der Bevölkerung im Allgemeinen - sehr an Ansehen und Attraktivität als Perspektive für die eigene Zukunft gewonnen Die Eliten unterstützen nach den regelmäßig wiederholten Umfragen mit mehr als 70 Prozent der abgegebenen Stimmen die Vereinigung mit der Europäischen Union. Unter der Bevölkerung im Allgemeinen hat diese Option die Unterstützung von 60 Prozent der Befragten aus dem Oppositionslager und von nur 27 Prozent aus dem Lukaschenkolager. Lukaschenko und die politische wie auch gesellschaftliche Opposition können zu je 50 Prozent auf die Unterstützung der Bevölkerung bauen. Die Vereinigung mit Russland, einer in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit von einer großen Mehrheit der Bevölkerung bevorzugten Perspektive für die Zukunft des Landes wünschen heute nur noch 13 Prozent im Kreis der Eliten, aber über 50 Prozent der Lukaschenko-Anhänger im ganzen Land, während sich nur noch 26 Prozent der dem Oppositionslager zuzurechnenden Bevölkerung für die dauerhafte Verbindung mit Russland aussprechen.

Bei den Parlamentswahlen und bei dem Referendum vom Oktober 2004 konnte sich diese Trendwende in der Meinungsbildung für Europa im Vergleich zu den neunziger Jahren kaum auswirken, weil der ganze Wahlprozess von der Einrichtung der Wahlkommissionen bis zur Registrierung der Kandidaten und der Durchführung der Wahlen einschließlich der Auszählung und damit das Ergebnis in hohem Masse manipuliert worden sind. Das haben sauch die Berichte der OSZE-Beobachter belegt.d. Wie in der Vergangenheit wird die Bevölkerung in allen Teilen des Landes unter unmittelbaren und indirekten Druck gesetzt. Gleiches gilt für das Referendum über die dritte und weitere Amtsperioden für den Präsidenten Lukaschenko, obschon sein Wunsch nach Wiederwahl im Jahre 2006 im ganzen Lande unpopulär ist.

In Kontakten mit westlichen Einrichtungen demonstrierten Oppositionsvertreter Optimismus hinsichtlich des zu erwartenden Wahlergebnisses. Das konnte nicht anders sein und führte im Lichte der am 17. Oktober 2004 von der Zentralen Wahlkommission bekannt gegebenen Ergebnisse zum Vorwurf des Wahlbetrugs. Der Vorwurf war berechtigt, aber mangels einer systematischen, objektivierten Wahlbeobachtung durch einheimische Netzwerke fiel es den politischen Parteien und gesellschaftlichen Strukturen schwer, die Fälschungen im Einzelnen nachzuweisen. Ob es den Beobachtern der OSZE möglich sein wird, Wahlfälschungen im Einzelnen nachzuweisen. Die Wahlbeobachter haben auf die undemokratischen Rahmenbedingungen der Wahlen und auf Teile des Wahlgesetzes verwiesen, die den OSZE Standards nicht entsprechen. Auf diese Sachverhalte war ihr negatives Urteil über die Wahlen abgestützt worden. Parallele Wahlauswertung (Parallel Vote Tabulation) konnte es in nennenswertem Umfang bei den Wahlen nicht geben, weil die belarussischen Behörden die Befragung der Wähler nach dem Wahlgang weitgehend unterbanden.

Lukaschenko hat das für den Erhalt seiner Machtstellung und der Kontrolle über alle Teile des Landes wichtigen, ja unerlässlichen Referendum – taktisch nicht unklug - gleichsam in letzter Minute den für ihn unwichtigen, einer Pflichtübung gleichkommenden Parlamentswahlen hinzugefügt. Die Wahlbeobachter der OSZE kontrollierten nicht die Durchführung des Referendums. Eine große Zahl speziell eingeladener Parlamentarier und Freunde des Regimes aus aller Welt stellten bereitwillig „Persilscheine“ über die Korrektheit der Wahlen und des Referendums ab. Diese dem Regime gegenüber wohlwollenden internationalen Beobachter, und auch die der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) dominierten die Nachrichtensendungen aus Minsk, aber auch die Berichte für andere Staaten der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS). Sie verdrängten die kritischen Stimmen der OSZE Beobachter und der Europäischen Parlamentarischen Institutionen.

Die insgesamt unbefriedigende Situation der unabhängigen einheimischen und der strukturellen internationalen Wahlbeobachtung sollte dazu beitragen, die Strategien und Vorgehensweise westlicher Institutionen zu überdenken und das eigene Handeln stärker als bisher auf die systematische Förderung des Demokratisierungsprozesses und der dazu erforderlichen Strukturen in der belarussischen Zivilgesellschaft zu konzentrieren.

Aus formalen Gründen hat die Parlamentarische Versammlung der OSZE die Vertreter der aus manipulierten Wahlen hervorgegangenen Mitglieder der belarussischen Nationalkammer (National Assembly) aufgenommen, konfrontiert diese Abgeordneten aber immer wieder mit Entschließungen, in denen die klassischen Forderungen nach einem den Demokratie- Forderungen Genüge tuenden Wahlgesetz, nach fairen Bedingungen für die unabhängige Presse, sowie nach mehr Rechten für das nationale Parlament, aber auch nach Einstellung der politischen und strafrechtlichen Verfolgung der Systemgegner wiederholt und bekräftigt werden.

Nach dem Verfassungscoup von Lukaschenko im November 1996 wurde der Status von Belarus als „Besonderer Gast“ bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Europäischen Institutionen aufgehoben. Eine weitere Verschlechterung haben Stellung und Ansehen von Belarus bei den Einrichtungen des Europarats durch den für die belarussische Staatsführung in außerordentlichem Masse kompromittierenden Inhalt des Christos Pourgourides-Berichts vom 9. Dezember 2003 erfahren. Der Bericht berichtet über die Umstände, unter denen in den Jahren 1999 und 2000 in Belarus mehrere Oppositionspolitiker und ein Journalist (Viktor Gonchar, Jury Zakharenko, Anatol Krasowski und Dmitrij Sawadski) verschwanden. Das Plenum der Parlamentarischen Versammlung des Europarats hat den Bericht am 21. April 2004 angenommen. Die Einleitung von Strafverfahren in einem europäischen Land gegen Personen in Belarus, die in diese Verbrechen involviert waren, ist nicht auszuschließen.

Es hat seit 1999 eine enge Zusammenarbeit zwischen den mit Belarus befassten parlamentarischen Einrichtungen der Europäischen Institutionen entwickelt. Die aus Parlamentariern der drei Institutionen gebildete Troika hat viele Male Belarus besucht und sich darum bemüht, den Dialog zwischen Regierung und Opposition zu aktivieren, um zu begrenzten Schritten in Richtung auf eine demokratische Ordnung im Lande zu kommen. Es hat auch wiederholt Gespräche mit Alexander Lukaschenko gegeben. Abgesehen von gelegentlichem Entgehgegenkommen in Einzelfragen – wie der Freilassung von inhaftierten politischen Systemgegnern – haben diese Begegnungen keine Ergebnisse gebracht, die den demokratischen Transformationsprozess in der Sache wieder in Gang setzten. Lukaschenko und seine Gefährten bauten jeweils auf den guten Willen und die Bemühungen von einzelnen Abgeordneten, im Wege kleinerer westlicher Zugeständnisse wieder Bewegung in das vereiste Beziehungsgeflecht zu bringen. Diesen Bemühungen ist kein Erfolg beschieden gewesen. In mehreren Fällen hat Lukaschenko seine Vertreter in solchen Gesprächen anschließend desavouiert und „in die Wüste“ geschickt, zum Beispiel den stellvertretenden Chef der Präsidialverwaltung Russakow und den Sonderbeauftragten Michael Sasonow.

IV. Die Bedeutung von Belarus im wirtschaftlichen Verbund Europas

In diesem Jahr wurde deutlich, dass es auf absehbarer Zeit nicht zu der seit langem anvisierten russisch-belarussischen Währungsunion auf der Grundlage einer gemeinsamen Währung kommen wird. Diese Feststellung beruht auf den Widersprüchen und Unvereinbarkeiten zwischen der russischen und der belarussischen Wirtschaftordnung und Wirtschaftspolitik. Ebenso deutlich lässt sich sagen, dass die russischen Energielieferungen in gewissem Umfang auch in Zukunft auf privilegierten Preisen beruhen und dass Russland der wichtigste Abnehme für die industrielle Fertigung von Belarus bleibt, während die Länder der Europäischen Union, vor allem Investitionsgüter liefern, also die schrittweise, wenn auch langsame Erneuerung des belarussischen Kapitalstocks ermöglichen. Der defizitäre Handel mit Russland macht etwa 50 Prozent des belarussischen Außenhandels aus, der insgesamt ein Defizit zu Lasten von Belarus aufweist. Der Handel mit der erweiterten EU macht etwa 25 Prozent. des Gesamtvolumens des belarussischen Außenhandels aus. Deutschland ist dem Volumen nach der größte Handelspartner von Belarus nach der Russischen Föderation. Investitionsgüter und Lohnveredelung spielen die größte Rolle in den Handelsbeziehungen. Als Transitland für den Handelsverkehr mit Russland hat Belarus erhebliche Bedeutung.

Anfang der neunziger Jahre wurde Belarus zusammen mit den baltischen Republiken als möglicher Aufnahmekandidat für die Europäische Union diskutiert. Davon kann nach der Errichtung der Beseitigung der demokratischen Strukturen durch das autoritäre Regime von Alexander Lukaschenko im Jahre 1996 nicht mehr die Rede sein. Nicht nur konnte das schon unterzeichnete Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU mit Belarus nicht zur Ratifikation durch die Mitgliedstaaten freigegeben werden, auch wurde die technische Zusammenarbeit suspendiert und trugen die willkürlichen Eingriffe der belarussischen Führung in das Wirtschaftsgeschehen zur sichtbaren Verschlechterung des Investitionsklimas für ausländische Direktinvestitionen. Zahlreiche ausländische Firmen trennen sich über kurz oder lang wieder von ihren Vorhaben in Belarus, auch russische Unternehmen. Durchgreifende Veränderungen wird es erst im Zuge der Wiederaufnahme des demokratischen Transformationsprozesses in Belarus geben können, unter anderem im Wege des auf Eis gelegten Partnerschafts- und Kooperationsabkommens der EU mit Belarus und der Einbeziehung des demokratischen Belarus in das Rahmenwerk der neuen „Europäischen Nachbarschaftspolitik“ Auch die Mitgliedschaft des Landes in der Welthandelsorganisation würde als Impulsgeber für Investitionen und Ausweitung der wirtschaftlichen Beziehungen beitragen können.

Die gegenwärtige Stagnation schließt kleinere Verbesserungen hier und da nicht aus.

Berlin, 2005


Hans-Georg Wieck

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